Die Produktion von für Blinde zugänglichen Bildern hat eine lange Geschichte, dabei sind viele verschiedene Ansätze ausprobiert worden. Diese Entwicklungsarbeit kann hier nicht thematisiert werden. Stattdessen beschreibe ich im Folgenden meine Forschung zu Möglichkeiten und Begrenzungen für das Erzählen in Bildsequenzen die für blinde Leserinnen und Leser zugänglich sind. Dabei liegt besonderes Augenmerk auf den Elementen von Comics-Narration und den technischen Bedingungen für taktile Text- und Bilddarstellung, also der Platzierung von aufeinander zu beziehenden Informationen. Aufgrund der räumlichen Platzierung der Elemente in haptisch lesbaren Reihen von Bildern sind diese eine extreme Herausforderung für Geburtsblinde, für Leserinnen und Leser, die erst später erblindet sind, scheinen die räumliche Verteilung von Bildinhalten mit Hilfe ihrer Erinnerung an das Sehen von Räumen leichter zugänglich zu sein.
Der hier herunterladbare Text setzt sich mit Comics für Blinde und stark sehbehinderte Menschen auseinander. Dieser Text ist eine Kurzfassung des englischen Textes zum selben Thema, der im Comics Forum erschienen ist. Diese Seite auf deutsch ist derzeit inkomplett und veraltet. Die englische Version enthält aktuellere und weitaus differenzierter beschriebene Erkenntnisse zum Thema.
Der Artikel zu taktilen Comics, den ich 2019 im Comics Forum veröffentlich habe (siehe oben), fokussiert auf den beispielhaften Comic life von Philipp Meyer. Er entwickelte diesen taktilen Comic in Zusammenarbeit mit nota, in Dänemark, als selbständige Studienarbeit in einem unserer Comics-Kurse an der Universität Malmö, wobei er eindeutig nicht unsere Hilfe bei der Projektarbeit benötigte, wohingegen der Kurs seinen Einsatz von sequentiellen Bildern ausgelöst und vorangetrieben hat. Für seine Projektarbeit bin ich ausgesprochen dankbar, weil sie meine Forschung zu Medien für Blinde ausgelöst hat - und während meine ersten Reflektionen zum Potential haptischer Comics deutlich enthusiastischer waren, fiel der spätere Artikel im Comics Forum deutlich skeptischer aus ausgrund fortgesetzter Forschung, Tests, und zahlreicher Diskussionen zu taktilen und anderen Medien für Blinde.
Bildliche Informationen sind räumlich organisiert und zumeist für nicht-sehbeeinträchtigte Leser bestimmt. Bilder werden vom Auge schnell gelesen, Wechselbeziehungen zwischen den Elementen eines Bildes können in der Komposition, in der Schattierung, in der Farbgebung, ja sogar in der Qualität der Linien signalisiert werden. Aber all diese Signale bauen auf visuellen Fähigkeiten von Lesern. Dabei sollte auch der Einfluss von Farbenblindheit auf die Lesbarkeit visueller Informationen zum Beispiel in Grafikdesign-Ausbildung berücksichtigt werden und von Designern bei der Entwicklung von Beschilderungen (z. B. zur Lenkung von Personen in Gebäuden), bildhaftem Informationsmaterial usw. berücksichtigt werden. Partielle Blindheit und Sehbehinderung werden tatsächlich zunehmend in typografischen Gestaltungen berücksichtigt, weil mehr Menschen älter werden und bekanntermaßen im Alter schlechter sehen.
Möglichkeiten, bildliche Information für blinde Leser zu aufzubereiten, werden zumeist nicht in diesen Zusammenhängen bedacht, vor allem nicht die Variationsbreite von Beeinträchtigungen: Geburtsblinde stellen sich die Welt anders vor als Menschen, die später im Leben erblindet sind und sich an die Komposition und an das Lesen von Bildern erinnern können. Bilder und Farben sind unterschiedlich abstrakte Informationen, für Geburtsblinde sind zum Beispiel Assoziationen von Farben auf bestimmte Objekte sind dabei nicht auf Erfahrung aufgebaut sondern wie Wortbedeutungen beim Sprachenlernen erlernt. Es bleibt zu bedenken, dass Bilder eine Menge Vorstellung erfordern die sich massiv unterscheiden zwischen Blinden und sehenden Menschen, die versuchen sich Blindheit vorzustellen. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass Bilder für Blinde eben nicht para-soziale Information auf einen Blick anbieten, wie sie das für Sehende tun, sondern alle Information ist soziokulturell kodiert und muss entsprechend ertastet und entschlüsselt werden. Wenn dieser Unterschied jedoch bedacht wird, ist es vermutlich möglich, taktile Bildsequenzen auch für Blinde ansprechend zu gestalten.
Natürlich gibt es sehr spezialisiertes Wissen zur Medienproduktion für blinde Leser, normalerweise in Organzisationen und Bildungseinrichtungen, die sich der Ausbildung und Unterstützung von Blinden und eingeschränkt Sehenden gewidmet haben. Im Rahmend er zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung sind mehr und mehr Hilfmittel entstanden, die Information aus schriftlicher Form zu akustischer Information umwandeln usw. Diese Angebote erlauben es blinden Lesern derzeit nur sehr eingeschränkt, die Lesegeschwindigkeit an ihre eigenen und ggf von Satz zu Satz unterschiedlichen Bedürfnissen anzupassen. Wiederholtes Lesen eines Teilsatzes oder ganzer Sätze oder Abschnitte ist möglich, aber unterschiedlich leicht zu steuern.
Taktil lesbares Material überläßt das Tempo und die Handhabung des Texts den einzelnen Lesenden. Aber es sei daran erinnert, dass bei weitem nicht alle Blinden in der Lage sind, Braille-Schrift zu lesen. Und dass nicht alle, die Braille-Buchstaben lesen können auch in der Lage wären, Braille-Kurzschrift mit all ihren Abkürzungen zu lesen. Ausgeschriebene Braille-Texte brauchen viel Platz und Lesezeit, längere Texte tendieren daher dazu, unterschiedliche Varianten von Kurzschrift in Braille zu verwenden. Entsprechend wird haptisch lesbarer Lesestoff für eine vergleichsbar kleine Lesergruppe produziert, zumeist in geringen Auflagen. Deshalb ist solches Material auch relativ teuer und die Möglichkeiten auf solche Veröffentlichungen zuzugreifen sind je nach Wohnort und Infrastruktur eingeschränkt. Bibliothekspersonal mit Fachkenntnis und Organisationen, die Blinde unterstützen, und nicht zuletzt funktionierende Post-Auslieferungen sind folglich wesentlich um gegen diese Nachteile anzukommen und um ausgebildet zu werden und informiert zu bleiben.
Bei der Vermittlung an Bildinformation und Erzählen in Bildersequenzen für blinde Leserinnen und Leser geht es nicht um Hörbücher oder multimediales Erzählen, sondern um Geschichten, die in einer Abfolge von Bildern zu Papier oder Plastik gebracht sind und die jede Leserin / jeder Leser dem eigenen Lesetempo entsprechend rezipiert. Wie dieses Erzählen funktioniert, wird am Beispiel erläutert, um davon ausgehend Möglichkeiten und Einschränkungen dieser Literaturgattung zu bedenken. Besonderes Augenmerk wird auf die Elemente des comic-spezifischen Erzählens (Bilder und Texte) und auf die Rahmenbedingungen haptischer Textwiedergabe gerichtet. Festzuhalten ist, dass taktile Comics aufgrund ihrer Eigenart der Informationspräsentation eine extreme Herausforderung für geburtsblinde Leserinnen und Leser darstellen. Ganz anders dagegen scheinen Menschen, die erst später im Leben erblindet sind oder stark sehbehindert wurden, die räumliche Anordnung von Informationen in Bildern lesen zu können.
Meine zunehmend systematische Auseinandersetzung mit Medien für Blinde, vor allem mit Bildern und Comics für Blinde, wurde von Philipp Meyers oben genannten Projekt ausgelöst. Sie entwickelte sich dann über mehrere Jahre in einem kleinen Forschungsprojekt das ich zusammen mit Rainer F.V. Witte in Marburg betreiben konnte, der mir darüber zu einem guten Freund wurde. Mein Lernen und Verstehen hat erheblich profitiert von seinem immensen Wissen und Erfahrungsreichtum betreffs der Produktion und Entwicklung von Medien für Blinde. Seine Bibliothek und sein Kontakt-Netzwerk aus seiner Zeit bei der Deutschen Blinden-Bibliothek und blista haben mir viel ermöglicht und tun es weiterhin, trotz seines Todes 2024. Seine gesunde Skepsis gegenüber gutgemeinten aber kaum praxistauglichen Hilfsmitteln hat uns viele heitere Stunden beschehrt. Sein Humor und sein Interesse an medialen Möglichkeiten für Blindenliteratur waren sehr hilfreich, zielführend, und haben mein Denken bereichert. Entsprechend bin ich sehr dankbar für die Zeit mit dem gemeinsamen Entwickeln, Testen, und Diskutieren.
Und hier kann eine Übersicht über das Braille-Alphabet heruntergeladen werden. Im Umgang mit Braille ist zu beachten, dass einzelne Buchstaben in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich repräsentiert werden, vor allem die Braille-Kurzschrift unterscheidet sich völlig zwischen einzelnen Sprachen. Das hier angebotene Übersicht zeigt Buchstaben, Nummern, und ein paar Verkürzungen aus der deutschen Blindenkurzschrift. Eine Übersicht ohne Kurzschrift kann hier heruntergeladen werden.
Wenn sich in den Brailletafeln Fehler finden, bitte ich um Hinweis, damit die behoben werden können, danke!
Die folgenden Artikel und Präsentationen zum Thema sind zugänglich (aus dem Projekt mit Rainer Witte ist Einiges noch nicht zur Publikation aufgebarbeitet):
"Comics für Blinde und Sehbehinderte?" Keynote bei "Un/Sichtbare Comicwelten. NEXTCOMiC-Festival 2022" organisiert von Barbara M. Eggert: Kunstuniversität Linz, 4. & 5. März 2022. Dieser Link erlaubt den Download der Präsentation.
"Blind readers and comics - reflecting on comics' storytelling from a different perspective." in: Comics Forum, 2019
"Comics for the Blind and for the Seeing" in: International Journal of Comic Art, Vol. 16:1, Spring 2014; 477-486.